Otto Timmermann zum 100. Geburtstag
Der Küster als Zeitgenosse
Als in den 1970er Jahren die moderne Sozialgeschichtsschreibung ihr Haupt erhebt und der Gattung der Biographie den wissenschaftlichen Rang abspricht, entgegnet ihr Golo Mann: „Wieviel allgemeine Geschichte, soziale Geschichte, Geistesgeschichte, politische Geschichte konzentriert sich wie in einem Brennspiegel in der Biographie Heines, Richard Wagners oder Albert Einsteins!“
Unser Jubilar, Otto Timmermann, der am 19.11.2016 seinen 100. Geburtstag gehabt hätte, würde über den Vergleich mit einem großen Literaten, Musiker oder Physiker sicherlich schmunzeln.
Dennoch gilt mutatis mutandis für das Travemünder Original das Gleiche wie für die drei eben genannten Prominenten.
In Timermanns Leben spiegeln sich u.a. politische Zeitgeschichte, globale und nationale Wirtschaftsgeschichte und regionale Kirchengeschichte wider.
Der Küster erweist sich hier, um ein im Volksmund und Geschichtswissenschaft zugleich gebräuchliches Wort heranzuziehen, als Zeitgenosse. Dies kann man bei der Lektüre der drei von Wolfgang Prühs herausgegebenen Timmermann-Bände, insbesondere der Autobiographie „Den Kopf voller Gedanken“, feststellen.
Das führte mich persönlich, der Timmermann zuvor nur vom Sehen aus dem Gottesdienst und durch Berichte beider Großmütter als Döntjeserzähler gekannt hatte, zu einer weitergehenden Beschäftigung mit seinem Werk (vgl. UT 4/348, 1/349, 3/351).
In der Zeit des Ersten Weltkrieges, am 19.11.1916, erblickt das spätere Ehrenmitglied des GVT das Licht der Welt. Sein Name lautet damals Otto Wiese. Er ist ein uneheliches Kind und wächst wegen der unsicheren Ernährungslage in Travemünde zunächst bei seinen Großeltern auf dem Gut Barendorf auf, was seine emotionale Nähe zu Mecklenburg bis ins hohe Alter erklärt.
Seine Eltern heiraten erst zum Beginn der Weimarer Republik 1919. 1920 erkennt Otto Timmermann sen. seinen Sohn als legitim an und fortan lebt Otto junior in dem markanten Haus in der Kurgartenstraße.
Als Jugendlicher lernt er hier die Wirkungen der mit dem New Yorker Börsenkrach im Jahre 1929 ausgelösten Weltwirtschaftskrise kennen.
In dieser Periode macht er seinen Volksschulabschluss. Beruflich betätigt er sich ein Jahr als Laufbursche für die Bäckerei Haase. Danach vermittelt ihn sein Vater an den Freund Wilhelm Beythien, der die Hermannshöhe betreibt.
Auf seiner Arbeit bekommt Otto die Folgen der unter Wirtschaftshistorikern bis heute umstrittenen Deflationspolitik des von 1930 bis 1932 amtierenden Reichskanzlers Brüning zu spüren. Er muss eine Lohnkürzung und schließlich am Ende des Krisenjahres 1932 die Entlassung hinnehmen.
Er kehrt nach Mecklenburg aufs Gut zurück. Angesichts dieses beruflichen Einschnittes ist es wenig verwunderlich, dass er für die Weimarer Republik insgesamt wenig gute Worte findet, die karitative Vereinstätigkeit in Travemünde und das Mecklenburger Landleben dagegen umso höher lobt.
Die Arbeit auf dem Gut Barendorf, der Arbeitsdienst in Schwartau, der Wehrdienst und schließlich der Kriegsdienst zunächst als Koch bei der Flak, zu Kriegsende an der Front sind Otto Timmermanns Stationen in nationalsozialistischer Zeit.
Er ist ein eher unpolitischer Mensch, lehnt aber die Nationalsozialisten instinktiv ab, wie einige Zwischenfälle zeigen. Da er zwar noch nicht Küster, aber durch die Familie kirchlich angebunden ist, wird er Zeuge des örtlichen Kirchenkampfes. Er nennt ihn die Sache, über die man „(n)ur hinter vorgehaltener Hand sprach“.
Der auf Reichsebene statt findende Streit zwischen den nationalsozialistischen „Deutschen Christen“ (DC) und der sich als innerkirchliche Opposition organisierenden „Bekennenden Kirche“ (BK) ereignet sich unter etwas anderem Vorzeichen und teilweise zeitlich verzögert auch in Lübeck.
Nach einem kurzen Intermezzo bei den DC zählt Travemündes Pastor Julius Jensen zu den eifrigen Parteigängern der BK. Wie auch die anderen Lübecker BK-Pastoren wird er zum Jahreswechsel 1936/1937 abgesetzt und erhält einen Hausarrest, der schließlich drei Monate andauern sollte.
Otto Timmermann nimmt an den Geschehnissen regen Anteil. Er liest Jensens Brief an die Gemeinde, in dem dieser die Absetzung erläutert, und spricht mit dem Pastor über die Lage. Er erinnert sich in seinen Memoiren an die Auseinandersetzungen – im theologischen und zeitlichen Detail nicht ganz korrekt, aber letztendlich im Kern zutreffend – zurück.
Auch der nächste Lebensabschnitt Otto Timmermanns ist mit Pastor Jensen verknüpft. Hintergrund ist folgender: Aufgrund einer Verwundung endet der Zweite Weltkrieg für den zuletzt an der Ostfront eingesetzten Unteroffizier im Schweriner Kriegsgefangenenlazarett. Als dort die Besatzung von Amerikanisch auf Sowjetisch wechselt, wird er unter dramatischen Umständen nach Travemünde verbracht.
Nach Ende der Kriegsgefangenschaft in dem als Lazarett fungierenden Hotel Deutscher Kaiser hilft er seinem kranken Vater bei der Postverteilung und der kleinen häuslichen Landwirtschaft.
Familie Timmermann überlebt wie viele andere Familien in der Nachkriegszeit mit den damals üblichen Tauschgeschäften.
Daneben trifft sie 1946 ein persönlicher Schlag. Otto senior stirbt.
Otto junior steht vor der Alternative, erneut bei Beythien auf der Hermannshöhe tätig oder auf Bitten von Pastor Jensen Nachfolger des Kirchendieners Jansen zu werden. Er entscheidet sich für Letzteres.
Zunächst ist er aber nur als Küster auf Honorarbasis tätig und hat problematische erste Dienstjahre. Ein in der historischen Gesamtschau stark überzogenes negatives Urteil über die britische Besatzungsmacht („der Engländer“), die sich St. Lorenz als Garnisonskirche hält, ist charakteristisch für Timmermanns Blick auf die Nachkriegsjahre. Dies mag seine Gründe in dem hautnahen Erleben der britischen Bombardierungen Hamburgs als Flaksoldat, aber auch in den täglichen Kleinkriegen mit der Besatzungsmacht haben. Es dreht sich dabei u.a. um den von Otto initiierten, allerdings damals üblichen Kohlenklau oder den Sabotageverdacht, dem er sich ausgesetzt sieht, als der für die damalige Orgel benötigte Blasebalg beim Abspielen von „God save the King“ explodiert.
Der psychologische Wendepunkt aus der Krisenzeit heraus erfolgt für Otto wie für so viele andere Bewohner der westlichen Zonen mit der Wirtschafts- und Währungsreform Ludwig Erhards am 20.06.1948.
Das in den 1950er Jahren dann einsetzende Wirtschaftswunder spült viel Geld in die Kassen der St.-Lorenzgemeinde. Es ermöglicht ein Festgehalt für Otto Timmermann als Küster – ein Amt, welches er über drei Jahrzehnte unter Lob zahlreicher mit ihm zusammenarbeitender Pastoren und es seinerseits ihn („Otto Bimbam“) prägen sollte. In diese Zeit fällt eine rege kirchliche Bautätigkeit. Die Gemeinde erwirbt das Gemeindehaus an der Kirche, sie errichtet die Gemeindehäuser nebst Pastoraten am Fahrenberg und im Teutendorfer Weg. Auch innerhalb der Kirche gibt es zahlreiche Neuerungen (Orgel, Heizung etc.).
Die Initialzündung für den Altenclub schreibt sich Timmemann selbst zu und entsprechende Bedeutung hat diese Einrichtung für ihn gehabt. Als die 1957 eingeführte dynamische Rente noch jung ist und viele ältere Travemünder von Armut geprägt sind, halten sie sich zum Aufwärmen in der Post in der Rose auf. Dies führt zu Auseinandersetzungen mit den Postbeamten. Um dem Abhilfe zu schaffen, entsteht 1965 der Altenclub. Um ihn sollte sich Otto Timmermann über den Eintritt in den Ruhestand hinaus kümmern.
Nachdem ein eigentlich vorgesehner Abschied vom Club 1985 nach drei Tagen an Ottos Heimweh scheitert, bleibt er ihm bis zu seinem 85. Geburtstag 2001, also über die Zeit der Grenzöffnung und dem Wiedersehen mit seinem geliebten Mecklenburg hinaus, treu.
Er zeigt sich hier wie auch in seiner rastlosen Publikations- und Vortragstätigkeit (letztere insbesondere beim Altstadtfest) als rüstiger Senior, der sich aber nicht nur seinem eigenen Wohlergehen, sondern vielen anderen Dienste am Nächsten ganz im wörtlichen Sinne des biblischen Wortes widmet. Darum hat Travemünde gewusst, ihn mit zahlreichen Ehrungen (Bürgerpreis, GVT-Ehrenmitgliedschaft etc.) bedacht und ihm schließlich 2002 sogar ein Denkmal erbaut.
Sein Tod am 24.04.2008 verursacht große Trauer. Seitdem scheint aber die Erinnerung an ihn ein wenig zu verblassen.
Vielleicht ist ja der 100. Geburtstag des Zeitgenossen und aktiven Travemünder Bürgers Otto Timmermann Anlass genug, sie wieder etwas aufzuhellen.
Tim Petersen
zurück zur Übersicht Travemünde Geschichte