Portraits Travemünder Personen
Otto Melchert
geb. 7. Januar 1913 in Travemünde
gest. 28. Juni 2000
Verleger
Er war ein ganz alter Travemünder, Schulkamerad von Malermeister Hargus und Dr. Schmidt, seine Familie selbst kann ihren Travemünder Stammbaum bis in das 16. Jahrhundert verfolgen. Im Januar 1913 in Travemünde geboren, hatte er noch einen kleinen Fuß in der Kaiserzeit und erlebte die dramatische Geschichte des 20. Jahrhunderts kritisch und mit wachen Augen.
Bei den Gesprächen über den Gemeindesaal am Godewind stellten wir viele Gemeinsamkeiten in unseren Erinnerungen fest, wobei Dresden eine große Rolle spielte für beide von uns, auf anderen Ebenen, versteht sich, denn ich bin ein gutes Jahrzehnt jünger als Otto Melchert. Seine Lebensgeschichte ist spannend wie ein Roman, der die wechselhaften Stationen eines erfolgreichen Verlegers zum Inhalt hat.
Dabei wollte Otto Melchert eigentlich Rechtsanwalt werden, aber ein „einschneidendes Erlebnis“, wie er selber formulierte, steuerte ihn auf ein anderes Gleis in seinem Berufsleben. Er arbeitete 1930 als junger Mann in einem Lübecker Rechtsanwaltbüro, als sich in dieser Stadt eine Katastrophe ereignete. Betroffen waren Hunderte von Säuglingen und Kleinkindern, die alle mit einem von dem französischen Forscher Albert Calmette entwickeltem Mittel gegen Tuberkulose geimpft worden waren. Nach kurzer Zeit starben 73 wegen einer Verwechslung von ihnen. 158 erlitten bleibende Schäden. In einem spektakulären Prozeß verurteilte das Gericht die beiden für die Impfung verantwortlichen Ärzte, anerkannte Tuberkulosespezialisten, zu Haftstrafen, obwohl sie das Beste für die Kinder gewollt hatten. Der Ausgang des Prozesses erweckte bei Otto Melchert starke Zweifel, und so war es ein Wink des Schicksals, daß ein Freund aus alten Tagen als Weichensteller in eine andere Berufswelt tätig wurde. Reinhard Beuthin, Karikaturist beim Lübecker Generalanzeiger, stellte den Kontakt zum Vobach-Verlag in Leipzig her, und schon war Otto Melchert dem gedruckten Wort verfallen. Nach Zwischenstationen beim Berliner Scherl-Verlag und Hamburger Bauer-Verlag, verschlug es ihn nach Dresden, wo er 1941 den Deutschen Literaturverlag erwarb.
Die Schilderung seines weiteren Lebensweges stammt aus der Feder von Matthias Gretzschel, veröffentlicht in den Dresdner Neuesten Nachrichten vom 27./28. Februar 1993, die ich so spannend finde, daß ich sie dem Leser nicht vorenthalten möchte.
„Der kämpferische Beethoven“ und ein Verleger, der nie aufgibt
von Matthias Gretzschel
Als der Dresdner Verleger Otto Melchert am späten Abend des 11. Februar 1945 das Restaurant im Hotel Bellevue am Theaterplatz betrat, traf er den Dichter Gerhart Hauptmann und setzte sich an seinen Tisch. „Ich erinnere mich noch sehr genau an diese unerwartete Begegnung“, sagte Melchert, der vor wenigen Wochen 80 Jahre alt geworden ist und heute in Hamburg lebt: „Der Krieg schien fast vorüber zu sein, und wir waren glücklich, daß Dresden und seine einzigartigen Kunstschätze von den Bomben verschont geblieben waren.“
Zwei Tage später wurde der Dichter in Oberloschwitz Zeuge des unvorstellbaren Dresdner Infernos und schrieb bald darauf seine erschütternde Klage „Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens…“ Otto Melchert, der auf der Müller-Berset-Straße in der Nähe des Großen Gartens wohnte, wurde wie alle Dresdner durch die Sirenen aufgeschreckt. Bei der zweiten Angriffswelle sank sein Haus in Schutt und Asche. Mit Mühe konnte er sich, seine Frau und den eineinhalbjährigen Sohn retten.
Weniger Papier für Nicht-Parteigenossen
Zu Fuß flüchteten sie an der Elbe aus der brennenden Stadt und erreichten zwei Tage später völlig entkräftet den Kurort Rathen in der Sächsischen Schweiz. „Mein Verlagsgebäude auf der Breiten Straße war zerstört, ich hatte auch sonst fast alles verloren und mußte bald erfahren, daß zwölf meiner vierzehn Mitarbeiter beim Angriff umgekommen waren,“ sagt er -und man spürt, wie gegenwärtig die Erinnerung an jene Schreckensnacht für ihn noch immer ist.
Nach Dresden war der gebürtige Lübecker 1940 gekommen weil sich hier die Chance für ihn bot, verlegerisch tätig zu werden. Er übernahm den 1909 gegründeten Deutschen Literaturverlag und führte ihn trotz politischer und kriegsbedingter Schwierigkeiten mit Erfolg. „Ich war nicht in der Partei und wurde daher bei der Papierzuteilung benachteiligt“, sagte er und erzählt, wie er die Bücher, die ihm wichtig waren, mit Geschick und List dennoch drucken konnte.
So hatte Hans Volkmanns Buch „Beethoven in seinen Beziehungen zu Dresden“ 1943 eigentlich keine Chance. Daraufhin nannte Melchert das Buch kurzerhand „Der kämpferische Beethoven“, worauf es prompt genehmigt wurde, ließ es aber dann doch unter dem ursprünglichen Titel erscheinen. Auch mit anderen Büchern widmete sich Melchert den kulturellen Werten jener Stadt, die er schon seit seiner Jugend liebte und die ihm nun zur zweiten Heimat geworden war. Besonders erfolgreich wurde das ebenfalls 1943 erschienene Freischütz-Buch des Dresdner Musikhistorikers Hans Schnoor „Weber auf dem Welttheater“ – ein geistiger Gegenentwurf zum kulturfeindlichen Alltag des NS-Zeit.
Neuer Anfang in Hamburg
Mit Schnoor, Volksmann, dem Kunstmaler Hugo Lange und dessen Lebensgefährtin, der Picasso-Schülerin Elsbeth Listner, sowie einigen Dresdner Schauspielern verband Melchert eine enge Freundschaft. Nach Konzert- und Theaterbesuchen traf man sich in Melcherts Wohnung, um bei Gesprächen über Kunst und Musik für Stunden den Kriegsalltag zu vergessen. Als dann die absurde Grausamkeit des Krieges Dresden eingeholt hatte, war das für Otto Melchert nicht nur ein persönliches Verhängnis. „Wenige Tage nach dem Angriff bin ich noch einmal nach Dresden zurückgekehrt“, sagt er und erzählt von den Leichenbergen, die in der Innenstadt zur Verbrennung aufgetürmt waren. Fassungslos stand er vor der Ruine seines Verlagsgebäudes auf der Breiten Straße in der Nähe des Hauptbahnhofes und sah bald darauf die zerborstene Kuppel der Frauenkirche inmitten der unwirklich anmutenden Trümmerwüste. „Diese Bilder“, sagt er leise, „werde ich niemals wieder los.“ Als Otto Melchert mit Frau und Kind kurz vor Kriegsende in Richtung Norden floh, geriet er in der Nähe von Lüneburg in einen Panzerangriff und verlor dabei noch die letzte Habe – einen kleinen Fahrradanhänger mit persönlichen Gegenständen. Völlig mittellos fand die Familie bei Verwandten in Buxtehude Aufnahme.
Doch statt zu resignieren, wagte Melchert schon bald einen persönlichen Neuanfang: Er ging nach Hamburg und erhielt dort – weil er politisch nicht belastet war – von der britischen Militärverwaltung die Genehmigung zur Gründung eines neuen Verlages. „Ich war der erste deutsche Verleger, der nach Kriegsende Romanhefte mit Texten von Kleist, Storm, Fontane und anderen Klassikern herausbrachte“ sagt der alte Herr voller Stolz. Aus den bescheidenen Anfängen ist inzwischen ein Großunternehmen mit etwa 400 Beschäftigten geworden, dessen Profil allerdings nicht mehr von gehobener Belletristik, sondern vom sogenannten PCR-Programm bestimmt wird, das für Romane, Comics und Rätsel steht. Mit dem Begriff der Trivialliteratur hat Melchert keine Probleme. „Was ist schon trivial?“ sagt er verschmitzt. „In der großen Literatur gibt es unendlich viel Triviales. Wer will da die Grenze ziehen?“ Seine besondere Vorliebe gilt Eugenie Marlitt, deren Werke er komplett verlegt und der Zeitschrift „Die Gartenlaube“.
Er besitzt nicht nur alle Originalausgaben dieser legendären Zeitschrift, sondern auch deren Publikationsrechte. „Irgendwann“, sagt der vitale 80jährige, „werde ich ’Die Gartenlaube‘ noch einmal neu herausgeben.“ Doch das sind nicht seine einzigen Pläne.
Wiedergeburt des Dresdner Verlages?
Als er bald nach der Wende zum erstenmal wieder nach Dresden kam, war er trotz der noch immer sichtbaren Folgen der Zerstörung von der Atmosphäre seiner einstigen Heimatstadt fasziniert. Er ging wieder an den Elbwiesen spazieren und genoß den Blick auf die Albrecht-Schlösser; Zeit zum Nachdenken über die Chancen einer Wiedergeburt seines Dresdner Verlages. „Eigentlich möchte ich es noch erleben,“ sagt er, „ daß ich in Dresden wieder einen Verlag, oder wenigstens eine Dependance meines Hamburger Unternehmens eröffnen kann.“ Den Titel, mit dem er den Deutschen Literaturverlag in Dresden zum zweitenmal starten könnte, weiß er schon jetzt: Hans Volksmanns „Beethoven in seinen Beziehungen zu Dresden“.
Bis zu seinem Tode lebte Otto Melchert in der Travemünder Felsenburg. Sein Sohn hatte die Leitung des Verlages übernommen, aber immer noch stellte er seine Arbeitskraft von Montag bis Mittwoch dem Verlag zur Verfügung, denn das „gedruckte Wort“ faszinierte ihn immer noch. Ab Donnerstag aber verbrachte er einen großen Teil seiner Zeit bei Gartenarbeit und Planungen für das Gemeindehaus. Der Gemeinnützige Verein zu Travemünde ist ihm für sein großzügiges Entgegenkommen sehr dankbar.
Otto Melchert, Ehrenmitglied und Bürgerpreisträger des Gemeinnützigen Vereins zu Travemünde, verstarb am 28. Juni 2000 im 88. Lebensjahr auf tragische Weise. Seine von ihm und seiner Familie so geliebte Ehefrau Betty folgte ihm am 15. Juli 2000 in die Ewigkeit. Beide fanden auf dem Travemünder Friedhof ihre letzte Ruhe.
Der Gemeinnützige Verein verdankt Otto Melchert sehr viel beim Aufbau eines aktiven Vereinslebens zum Wohle Travemündes und seiner Bürger. Das Haus, das seinen Namen trägt und so schon früh zu einem Denkmal wurde, ist zum Treffpunkt Travemünder Menschen in mannigfaltigen Bereichen des sozialen und kulturellen Lebens geworden.
Helmuth Wieck
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