Travemünder Häuser Nr. 73
Vorderreihe 1
Das Ecke Jahrmarktstraße/Vorderreihe stehende Haus habe ich 1987 von meinem Vater, dem Kaufmann Heinz Ruesch aus Lübeck, geerbt.
Die Kunsttopographie Schleswig-Holstein von 1969 beschreibt das Eckhaus als eingeschossig, mit Mansardendach, verputzter Giebelseite und Traufseiten in Fachwerk. Ende des 18. Jahrhunderts ist es erbaut. Es stand bis Juli 1965 unter Denkmalschutz, wurde dann zum Abbruch freigegeben.
Als ich das Haus übernahm, war es in einem jämmerlichen Zustand. Mein Vater meinte, es müsse abgerissen werden. Ich aber fand sein Dach und seine ausladende Form liebenswert, immer wenn ich auf Ferienfahrten vorbeikam. Ich traf mich mit dem Architekten Harald Hamann aus Lübeck und fragte ihn, ob es sich lohne, dieses Haus zu sanieren. Er machte mir Mut, wir vereinbarten den Preis von 200.000 DM, und die Erneuerung begann. Aus einem Geschäftshaus wurde ein Wohnhaus.
Die Baugenehmigung kam im Januar 1988, im Juli 1988 war die Instandsetzung geschafft. Die Architektin Doris Rickmers vom Büro Harald Hamann betreute den Bau. Das Haus hat 110 qm Wohnfläche. Im Erdgeschoß sind jetzt zwei Zimmer und eine Diele, Küche und Bad. Im Obergeschoß blieb die alte Aufteilung, drei Zimmer, Bad und eine Küchenzeile auf dem Flur. Unter dem Dach gibt es einen großen Raum und eine Kammer mit den Gasthermen für die Heizung. Eine herrschaftliche Treppe führt ins Obergeschoß. Der Boden unten wurde erneuert, er hat jetzt Steinplatten, die Treppenstufen und die Böden oben abgeschliffen. Ihr Alter ist sichtbar. Die Fußbodenleisten und die Türen sind alt. Um einen Eingang zu zwei Wohnungen zu erhalten, ist in ein Fachwerkgeviert auf der Westseite des Hauses eine Holztür eingebaut worden. Die vordere Eingangstür stammt aus einem anderen Lübecker Gebäude, wir fanden sie beim Antiquar Bannow in Lübeck. Im Haus gibt es noch alte Scheiben; unten in der Mitte der Diele umrahmen je zehn quadratische Felder aus altem Glas eine Tür. Die Fenster im Erdgeschoß nach hinten sind übergroß. Den Hof füllte ein Schuppen mit Waschküche und Toilette aus, jetzt ist er mein geliebter grüner Sitzplatz.
Bei der Finanzierung half die Wohnungsbaukreditanstalt Schleswig-Holstein mit einem zinsgünstigen Darlehen, die Possehlstiftung schenkte 12.000 DM, die Stiftung „Historisch wertvolle Gebäude Schleswig-Holstein“ gab 20.000 DM zu 3 % Zinsen.
Im Dezember 1988 wurde die Vorderreihe 1 wieder unter Denkmalschutz gestellt.
Als das Haus gebaut wurde, lag es näher an der Trave als heute. Das zeigen alte Photographien. Frau Tews, die vor mir im Obergeschoß wohnte, wusste zu berichten, dass nach der starken Flut 1872 die große Haustür der Vorderreihe 1 am Stülper Huk angeschwemmt worden sei. Bei der Renovierung konnte ich an Balken und am Stroh des Fachwerks sehen, wie hoch das Wasser im Haus gestanden hat. Ich fürchte jedes Hochwasser. Im November 1995 drang Travewasser durch die Tür zur Jahrmarktstraße herein, auf der zweiten Treppenstufe schwamm ein kleiner toter Fisch. Es gab nur geringen Schaden, weil mein Erdgeschoß drei Stufen hoch liegt und das Wasser, kurz bevor es die dritte Stufe erreichte, abfloss. Aber der Geruch der Feuchtigkeit blieb lange.
Die Fa. H. Weigel, Schiffsausrüstung in der Engelsgrube in Lübeck, benutzte das Erdgeschoß als Filiale für Yachtbedarf. Mein Vater Heinz Ruesch „Inhaber der Fa. H. Weigel“, war Eigentümer des Hauses von 1956 bis 1987. Mein Wissen von den Bewohnern vor mir habe ich von Liane Breiholz, Peter Stürholdt und Otto Timmermann, denen ich für ihre freundlichen Auskünfte danke.
Vor 1956 war das Erdgeschoß geteilt, zur Jahrmarktstraße hin hatte Kurt Meier, genannt Pott-Meier, sein Haushaltswarengeschäft. Auf der anderen Seite des in der Mitte liegenden Flures wohnte die Familie Tews, Anni und Otto. Otto Tews war als Bäcker beschäftigt, bei Schlüter und bei Rieckmann. Später wohnten Tews im oberen Stockwerk und machten Hausmeisterdienste bei H. Weigel.
Vor der Firma Pott-Meier gab es den Laden vom Rentner Steinhoff im Erdgeschoß, wo man Tabakwaren und Priem kaufen konnte. Angehörige der Familie Steinhoff sind von 1872 bis 1956 im Grundbuch als Eigentümer eingetragen. Ein Familienmitglied, Eduard Wilhelm Steinhoff, war Bäckermeister. Er besaß das Haus von 1914 bis 1950. Bis 1956 gehörte es Marie Luise Klatt, geborene Steinhoff. Die Familie Steinhoff war durch Heirat verwandt mit den Vaglers. Auf dem Kirchhof im Osten der St. Lorenz-Kirche steht ein Grabstein mit folgender gut erhaltener Inschrift:
Hier ruhet in Gott
Anna Margaretha Vagler, geb. Evers
geb. d. 14. Mai 1789, gest. d. 29. April 1838
So hat Sie endlich überwunden / Die gute fromme Dulderin
Ihr Teil nach wenigen Marterstunden / Ist ewiger himmlischer Gewinn
Letzt krönt des Höchsten ganze Huld / Die standhaft christliche Geduld
Mich freut, dass einer möglichen Bewohnerin meines Hauses so schön auf dem Grabkreuz gedacht wird.
Nach der Sanierung mietete das Erdgeschoss ein junges Paar, Christine Ploog und Tom Niethen. Ich benutzte die obere Wohnung zum Ferien- und Wochenendaufenthalt für mich und meine vier Kinderfamilien. Seit 1994 bewohne ich das Haus allein ganzjährig und freue mich, wenn Kinder, Enkel, Urenkelkind und Freunde es beleben. Möge ich noch lange froh in den hellen Räumen unter dem breiten Dach wohnen!
Heidi Jensen
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