2002 – Heft 2 / 311
K R I T I C U S
hat beim Aufräumen auf dem Boden einen Schuhkarton gefunden, das ist ja noch nicht besonders verwunderlich. Dafür war es der Inhalt. Er enthielt viele Ansichtspostkarten, die eine längst verstorbene Tante von Verwandten, Freunden und Bekannten im Laufe vieler Jahrzehnte gesammelt und aufgehoben hatte, weil sie besonders hübsch oder wichtig waren. Die älteste Karte stammte aus dem Jahre 1908 und war mit einer Germaniamarke im Wert von sechs Pfennig frankiert. Als Wohnort des Empfängers war das Ostseebad Travemünde angegeben und die Karte kam aus Passau. Letzteres konnte KRITICUS nicht nur dem hübschen Bildchen entnehmen, sondern auch der deutlich lesbaren Ortsangabe auf dem Poststempel, mit Datum und Zeitangabe wohlgemerkt.
Die letzte Karte hatte ein guter Freund der Tante im Oktober 1991 aus der Schweiz abgeschickt, ebenfalls nach Travemünde. Dieses Erinnerungsstück erreichte den Empfänger auch noch innerhalb von zwei Tagen, wie der Datumseintrag bewies, denn die Tante war ein sehr ordentlicher Mensch. Neulich, also im Jahre des Herrn 2002, empfing KRITICUS eine Karte aus Eutin, die war 14 Tage unterwegs, weil der Absender aus Unwissenheit, denn er kam aus Südamerika, noch die alte Postleitzahl 2400 vor Travemünde gesetzt hatte. Darunter stand von postalischer Hand dazugeschrieben, daß deswegen die Zustellung verzögert worden wäre.
Dann folgte die neue Postleitzahl mit der Ortsbezeichnung Lübeck. KRITICUS hat sich bei einem befreundeten Postler kundig gemacht, der ihm erklärte, daß alle Briefe und Postkarten erst einmal bei einem Briefzentrum landen, dort sortiert und an die Empfängeradresse weitergeleitet werden. Aber für den KRITICUS war interessant, daß für das Briefzentrum Travemünde gar nicht mehr existiert, sondern unter 23570 Lübeck geführt wird. KRITICUS war schon lange Zeit aufgefallen, daß er vornehmlich von Behörden, Versandhäusern u.ä. Absendern Post erhielt, die nur noch Lübeck als Empfängerort auswiesen. Und auch im Lübecker Adressbuch sind die Straßennamen von Travemünde alphabetisch bei den Lübecker Bezeichnungen einsortiert.
Das Ostseebad Travemünde kann auf zweihundert mehr oder auch mal weniger erfolgreiche Jahre als anerkanntes Kur- und Heilbad zurückblicken, die Geschichte des 1187 gegründeten Städtchens zeigte trotz der Zugehörigkeit zum Lübecker Stadtstaat eindeutig eigene Strukturen. KRITICUS könnte viele Beispiele bringen, die die selbständige Entwicklung Travemündes in vielen Bereichen beweisen, wohlgemerkt durchaus sehr oft unabhängig von Lübecker Ereignissen. Die Travemünder durften, und das war ein Privileg, Bier brauen und eine Stadtmühle betreiben. 1531 nach der Reformation öffnete die älteste „Volksschule“ Schleswig-Holsteins für Jedermanns Kinder ihre Pforten in Travemünde.
Die von Heinrich Behrens Mitte des 19. Jahrhunderts gegründete Travemünder Baumschule und Rosenzuchtanlage war bei Fachleuten in ganz Europa bekannt. Thomas Mann liebte Travemünde ganz besonders und ließ eine rührende Episode mit Toni Buddenbrook in diesem Städtchen mit seinem alten Leuchtturm spielen. Travemünde war der Ort, in dem man sich von der Geschäftigkeit Lübecks erholen wollte und konnte.
Warum schreibt KRITICUS diese Sätze? Weil er sich ärgert, daß in zunehmendem Maße vermieden wird, die Eigenständigkeit Travemündes zu erkennen und auch entsprechend zu nutzen. Denn Travemünde war ein Begriff als Ostseebad, nicht Lübeck. Gott sei Dank, im Telefonbuch finden wir noch unsere Extraseiten mit eigener Vorwahl, da mußten sich Bad Schwartau und Stockelsdorf schon in Lübeck eingemeinden lassen.
Um auf den Anfang unserer Geschichte zurückzukommen: KRITICUS hätte es ganz gerne, und er legt bei Verwandten, Freunden und Bekannten sogar Wert darauf, wenn die an ihn adressierte Post eindeutig ausweist, daß er in Travemünde wohnt. Darauf ist er nämlich sogar ein bißchen stolz und wird von vielen Menschen deswegen sogar beneidet. Statt Travemünde hinter einer anonymen Postleitzahl verschwinden zu lassen, sollten wir den Namen überall, wo wir es können, besonders hervorheben. Das wäre sicher auch gerade im Hinblick auf unser 200-jähriges Jubiläum für alle ein Zeichen der speziellen Situation von Travemünde und damit gleichzeitig eine kleine, aber feine Werbung, das meint jedenfalls der
KRITICUS.
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