Zwei Travemünder Gilden stellen sich vor
Was ist eine Gilde? Das Lexikon gibt uns Auskunft: Gilde „Versammlung“, von altsächs. geldan „opfern“ Lutherzeit), Berufsvereinigung, Innung, Zunft. Blütezeit des Gildewesens war das Mittelalter, es gab Schutzgilden zu gemeinsamer Selbsthilfe, ferner wirtschl. G. (Gewerbs G.) von Kaufleuten (Hanse), Handwerkern, auch Bauern, schließlich religiöse G. (Bruderschaften).
1629 wütete in Travemünde die Pest. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung wurde von der Seuche dahingerafft, viele suchten ihr Heil in der Flucht und verließen die verseuchte Stadt, nur ein kleiner Rest der Bevölkerung, der von der Krankheit verschont worden war, verblieb in dem fast menschenleeren Ort.
Der Friedhof an der Kirche reichte nicht mehr aus, um die vielen Toten zu bestatten, man begrub die armen Menschen in Massengräbern vor der Stadt oder verscharrte sie oberflächlich im Walde. Der harte Winter hatte den Boden steinhart frieren lassen, so daß es außerordentlich schwierig war, Gräber tief genug auszuheben. Die Chronik berichtete, dass noch Jahre später auf dem Friedhof und anderen Grabfeldern plötzlich verweste Arme, Beine und andere Leichenteile aus der Erde ragten, weil die Toten nicht tief genug beerdigt worden waren.
Die Pest hatte der Bevölkerung Travemündes auch wirtschaftlich großen Schaden zugefügt. Besonders die ärmeren Menschen mussten besonders leiden und waren häufig nicht in der Lage, ihren verstorbenen Familienangehörigen ein ordentliches Begräbnis auszurichten. Nach dem Ende der Pest kehrten doch wieder viele von der Seuche verschonte und abgewanderte Travemünder in ihr geliebtes Städtchen zurück und einige kluge Bürger überlegten sich, ob es nicht möglich wäre, sich wenigstens finanziell gegen solches Ungemach abzusichern. Und so gründete man im Jahre 1701 eine Schutzgilde zu gemeinsamer Selbsthilfe und nannte diese gemeinnützige Vereinigung die Travemünder Totenlade.
Was der Sinn dieser Gemeinschaft ist, können wir der Satzung dieser Gilde entnehmen, die auf den heutigen Stand gebracht wurde und heute noch ihre Gültigkeit hat.
Diese Satzung beginnt mit dem § 1: Allgemeines
- Die im Jahre 1701 gegründete Sterbekasse führt den Namen „Travemünder Totenlade“ und hat ihren Sitz in Lübeck. Sie ist ein kleinerer Versicherungsverein im Sinne von §53 des Versicherungsaufsichtsgesetzes.
- Die Kasse gewährt beim Tode ihrer Mitglieder und etwa mitversicherter Kinder ein Sterbegeld.
Und im §2 (Aufnahme) lesen wir:
- In die Kasse können Personen aufgenommen werden, die das 15. Lebensjahr vollendet und das 49. Lebensjahr noch nicht überschritten haben. Kinder bis zum vollendeten 15. Lebensjahr sind mitversichert.
Aufgenommen werden Bewohner Travemündes und der näheren Umgebung. Dieser Versicherungsschutz wird heute im Jahre 2002 noch genauso gewährt wie vor 300 Jahren. Da die Mitglieder des Vorstandes ehrenamtlich tätig sind, können außerordentlich niedrige Beiträge erhoben werden, und vom 65. Lebensjahr an ist man beitragsfrei. Die Satzung ist recht umfangreich und einzusehen beim 1. Vorsitzenden Jürgen Richartz, der Am Krautacker 13 wohnt. Ihm zur Seite steht als 2. Vorsitzender der Malermeister Werner Holst, den wir im Personenportrait vorgestellt haben. Die Mitglieder des Vorstandes nannte man Ältermänner. Die Beiträge werden traditionsgemäß am 31. Januar, dem Hebungstag, bei der Mitgliederversammlung in der Sonne eingezahlt, natürlich verbunden mit einem gemütlichen Beisammensein, denn man kennt sich ja. Selbstverständlich kann man heutzutage die Beiträge auch auf das Bankkonto der Travemünder Totenlade überweisen. Wenn Sie Mitglied in diesem ältesten noch aktiven Verein werden wollen, können Sie sich um die Aufnahme bei den Vorsitzenden bewerben.
Auch die zweite Vereinigung, über die wir jetzt berichten wollen, ist eine Gilde, die ebenfalls eine Sterbekasse ist, nur nicht für Menschen, sondern für – Sie lesen richtig – für Schweine. Dieser Traditionsverein wurde 1873 gegründet und heißt „Schweinegilde zu Travemünde“, und der erste Vorsitzende ist seit 1981 unser Freund Malermeister Werner Holst, der seinen Vater im Amt Kurt Holst ablöste. Dieser war 1952 Vorsitzender und wurde von den AltTravemündern respektvoll der Schweinefürst genannt. Zur Gründungszeit dieses Vereins hielten sich viele Travemünder in der Altstadt ein oder auch zwei Schweine. Im Höchstfalle konnten „3 versicherungsfähige Schweine beim Verein zur Versicherung angemeldet und fortgesetzt versichert werden“. Natürlich ist in der Satzung genau festgelegt, was bei der Schweinehaltung zu beachten und welche tierärztlichen Maßnahmen zu treffen sind. Selbstverständlich war auch diese Versicherung von den staatlichen Aufsichtsbehörden anerkannt worden. Einer der ersten Vorsitzenden war Friedrich Böhter, der erst im hohen Alter im Jahre 1952 den Vorsitz an „Kurt Holst“ abgab. Böhter hat diesen Traditionsverein geschickt durch die schweren Kriegs- und Nachkriegszeiten gesteuert.
Seit 1994 ist in Travemünde die Schweinehaltung nicht mehr erlaubt, aber die Schweinegilde, oder auch Swiensgil genannt besteht als geselliger Verein weiter fort. Zur Jahreshauptversammlung mit Festball im Gesellschaftshaus werden von Lohff zwei Schweine geschlachtet und zerlegt bei einer Tombola verlost. Neben einer Blaufahrt im Mai gehören traditionsgemäß eine Frühjahrs- und eine Herbstwanderung mit Erbsensuppe satt zum Vereinsprogramm. Wir wünschen beiden Gilden noch viele erfolgreiche Jahre und Freude beim geselligen Vereinsleben.
Helmuth Wieck
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