Travemünder Häuser Nr. 55
Kaiserallee 5
Hotel Villa Charlott
Im Jahre 1872 brachten zwei Ereignisse ganz unterschiedlicher Art die Seebadeanstalt Travemünde, wie man damals die Kuranlagen in Neu-Travemünde, also jenseits vom heutigen Lotsenberg, zu bezeichnen pflegte, beinahe an den Rand des Ruins. Kaiser Wilhelm hatte 1872 alle Spielcasinos im neuen Deutschen Reich schließen lassen, weil er das Spielen um Geld sehr unmoralisch empfand. Vor allem das ausländische Publikum, besonders die wohlhabenden Russen, die viel Geld in Travemünde gelassen hatten, suchten andere Orte mit Spielcasinos auf. Da auch der gesamte Kurbetrieb sehr von der Spielbank abhängig war geriet die Seebadeanstalt in große finanzielle Turbulenzen. Als dann im November 1872 eine große Sturmflut gewaltigen Schaden im Ort und an den Kuranlagen anrichtete, schien die damals noch privat bewirtschaftete Seebadeanstalt an den Rand des Konkurses gekommen zu sein.
Die Travemünder Geschäftsleute aber ließen den Mut nicht sinken, sondern setzten auf den guten Ruf, den sich das Städtchen als Ostseebad errungen hatte. Einige günstige Umstände förderten die positive Entwicklung, zumal das gut bürgerliche Publikum das Seebad für ihren Stand entdeckt hatten. Thomas Mann schildert in seinem Lübeckroman „Die Buddenbrooks“ ausführlich und mit viel Liebe das gesellschaftliche Leben in Travemünde am Ende des 19. Jahrhunderts. 1879 öffnete eine richtige Badeanstalt ihre Pforten. Sie befand sich am Strand in Höhe des heutigen Maritim-HoteIs und bot neben Umkleidekabinen und einer Restauration getrennte Bademöglichkeiten für Damen und Herren und, man staune über den sozialen Fortschritt, in den Morgenstunden auch für das Dienstpersonal Um diese Zeit herum entstanden auch viele Villen der Gründerzeit, auch in der Kaiser-Allee (mit Bindestrich), die zu Ehren des deutschen Kaisers Wilhelm I. so benannt worden war.
Ganz besonders engagierte sich der bekannte Travemünder Baumeister H. Hobe in der Kaiserallee (heute ohne Bindestrich). Er baute allein sieben nicht allzu große Villen, die man auch im ganzen für den Sommer mieten konnte. Im Führer durch Travemünde und Umgebung (Woerl’s Reisehandbücher) von 1894 wird ein Mietpreis von 600 bis 1200 Mark für die Saison angegeben. In den verbliebenen Hobe’schen Villen, z. B. im Haus Urvasi, früher Villa Elisabeth, kann man heute noch gemütlich, preiswert und komfortabel als Kurgast wohnen.
Und es kamen immer mehr Gäste, denn als 1882 die Eisenbahnlinie von Lübeck nach Travemünde eröffnet wurde, mußte man nicht mehr umständlich mit der Kutsche oder dem Schiff anreisen, sondern konnte bequem von ganz Deutschland aus Travemünde erreichen.
Im selben Jahr wurde auf dem Priwall eine Pferderennbahn gebaut, die bis 1934 in Betrieb war. Als 1888 die erste Segelwettfahrt stattfand, die 1891 zur ersten jährlichen Regatta, der heutigen Travemünder Woche, führte, interessierte sich auch Kaiser Wilhelm II. für das kleine Städtchen an der Ostsee und besuchte die Travemünder Woche mit den kaiserlichen Yachten „Hohenzollern“ und „Meteor“ , die an der eigens für die kaiserliche Familie erbauten Kaiserbrücke anlegten, denn auch Prinz Heinrich, der Mann mit der Mütze, kam öfter nach Travemünde. Diese Ereignisse förderten den Bauboom in Neu-Travemünde ganz erheblich. Es war deshalb vom Lübecker Senat ein kluger Entschluß, 1897 die Einrichtungen der Seebadeanstalt zu kaufen und Travemünde sozusagen zum Staatsbad zu befördern.
Am 6. Februar 1897 erwarb der Kaufmann Johannes Karl Ludwig Schmidt das Grundstück Kaiserallee 5, und damit beginnt die Geschichte unseres Hauses, der Villa Charlott. Dieses Gebäude ist ein ganz typisches Beispiel für die Bäderarchitektur, die man in den englischen Seebädern, z. B. in Brighton oder Eastbourne bewundern kann. Typisch sind die beinahe schweizerisch anmutenden hölzernen Giebel und Balkone, sowie die gediegenen Treppen, die ebenfalls aus massiven Holz gefertigt sind.
Auch die „Villa Daheim“, Kaiserallee 35, dokumentiert diese Stilepoche. Ein Paradebeispiel dieser Bäderarchitektur bietet uns die Bebauung von Heiligendamm, dem ältesten Seebad Deutschlands mit seinen Prachtvillen, die zum großen Teil wieder stilgerecht renoviert worden sind.
Betritt man die Villa Charlott, so bewundert der staunende Gast die Eingangshalle und die wunderschöne Treppe, die aus edlen Hölzern gefertigt worden sind. Der Kenner entdeckt schon Jugendstilelemente, die ja um die Jahrhundert- wende auch im Haus- und Einrichtungsbau immer größeren Einfluß gewannen.
Laut Grundbucheintrag erwarb der Hamburger Hotelier Wilhelm Samuel Mählmann am 22. Juli 1914 Grundstück und Haus. Interessant ist auch folgende Eintragung von 1897 im Grundbuch, die auch der neue Besitzer zu befolgen hatte. Diese Auflage ist in schönster Rechtschreibung der Kaiserzeit in gestochen scharfer deutscher Kanzleischrift, leider für die meisten jüngeren Vertreter unseres Jahrhunderts nicht mehr lesbar, mit folgendem Text eingetragen: „Der Eigenthümer des Grundstückes Kaiserallee No. 5 gestattet, daß die dem Eigenthümer der Seebadeanstalt gehörende, durch das Grundstück No.5 führende Wasserleitung an ihrer jetzigen Stelle bleibt und der Eigenthümer der Seebadeanstalt befugt sein soll, die erforderlichen Reparaturen an derselben vorzunehmen, wogegen der Eigenthümer des Grundstückes Kaiserallee No.5 das Recht hat, sein Grundstück an diese Wasserleitung anzuschließen.“
Im Prospekt der Badeverwaltung Travemünde von 1928 ist das Haus Kaiserallee 5 unter der Rubrik „Gasthäuser und Fremdenheime“, aufgeführt als Villa Maris, zu erreichen unter der Fernrufnummer 55, mit 34 Betten, Zimmerpreis pro Person RM 2,-/ 5,- bzw. Vollpension RM 7,50/ 10,50. Diese Preise galten für das Jahr 1928.
Wilhelm Samuel Mählmann überschrieb 1931 das Anwesen seinem Sohn, dem Kaufmann Herbert Freddy M. und dieser verkaufte es schon am 19. Juni 1933 an den Cafetier Erich Struck und dessen Ehefrau Charlotte, geb. Goddeng aus Altona. Diese heiratete in zweiter Ehe Hermann Götze, und nach ihrem Namen wurde das Haus nun Villa Charlott getauft. Im hinteren Teil des Hauses befand sich übrigens die Bar Charlott, vielen alten Travemündern und Croupiers als unterhaltsamer Treffpunkt bekannt.
Das Grundstück wechselte bis zum Jahre 2000 noch einige Male den Besitzer. Von 1976 bis 1981 gehörte das Haus Wilhelm und Eva Maria Zubke, die es 1987 an Joachim Schulz, dem Besitzer des Hotels „Deutscher Kaiser“ und des Possehl-Hauses, heute „Haus Royal“, weiter veräußerten. Im Jahre 2000 übergab Joachim Schulz das Haus in jüngere Hände. Martina Koop, die bei ihm ihren Beruf erlernt hatte und 15 Jahre im „Deutschen Kaiser“ tätig war, übernahm den gastlichen Betrieb. Natürlich wurde das Hotel im Laufe der Jahre ständig den Anforderungen der Zeit angepasst, ohne seinen Charme zu verlieren. In den Jahren 2000/01 wurden die zum Hotel gehörenden Gebäude mit einem neuen weißen Anstrich versehen, und im April 2003, kurz vor dem Osterfest, ist auch die von zwei weißen Löwen bewachte Terrasse im Vordergarten fertiggestellt worden. Man sieht dem Hause die mehr als hundert Jahre nicht an, nur der Baustil erinnert an kaiserliche Zeiten. Beim Betreten der Villa Charlott hat der Gast immer noch das Gefühl der beinahe familiären Geborgenheit, die für den urlaubsreifen und Erholung suchenden Menschen doch von sehr großer Wichtigkeit sind.
Wir wünschen dem „Haus Charlott“ und seiner jungen und dynamischen Besitzerin viele erfolgreiche Jahre und ein immer volles Haus mit zufriedenen Gästen.
Helmuth Wieck
zurück zur Übersichtsseite Portraits Travemünder Häuser