Travemünder Häuser Nr. 62
Kurgartenstraße 61/63
Die Kurgartenstraße hieß vor nicht allzu langer Zeit noch Hinterreihe. Sie verläuft parallel zur Vorderreihe. In früheren Zeiten wohnten in der Vorderreihe hauptsächlich Kaufleute, Schiffszimmerleute, Segelmacher, Wirtsleute, sogar Bierbrauer, eben Berufsgruppen, die irgendwie mit der Seefahrt zu tun hatten, denn die Vorderreihe war die Hafenstraße, hier legten Kauffahrtei- und Orlogschiffe (Handels- und Kriegsschiffe) an. Deswegen wurde die Vorderreihe schon im Mittelalter gepflastert. Hier brach im Jahre 1522 auch der fürchterliche Brand aus, der Travemünde in Schutt und Asche legte. Durch den Funkenflug bei einem kleinen Brand in der Brauerei entzündeten sich die Orlogschiffe, die mit Pulver und Kanonenkugeln beladen waren, sie explodierten und richteten große Verheerungen an.
In der Hinterreihe ging es beschaulicher, aber auch primitiver zu. Hier wohnten die Schuster und Schneider, die Tagelöhner und Arbeiter, manchmal auch ein Schulmeister. Die Straße blieb lange unbefestigt, die Regengräben wurden auch für die Abfallbeseitigung benutzt, wobei das Borstenvieh seinen Teil dazu beitrug. In einem Reisebericht aus dem 18. Jahrhundert wird mitgeteilt, daß sich „Kinder und Schweine im Dreck der Straße sielten.“
Diese Zustände änderten sich aber schlagartig mit der Gründung des Seebades. Aber noch lange erfolgte die Trinkwasserversorgung durch Straßenpumpen, und die Fäkalieneimer wurden noch in der Mitte des zwanzigsten Jahrhundert von Spezialpferdewagen von jedem Haus abgeholt. Die Verlängerung der Vorder- und der Hinterreihe nach der Rose zeigt deutlich, wie das Städtchen der positiven Entwicklung der Seebadeanstalt folgte. Es entstanden „moderne“ Hotels und Privathäuser, um Kurgäste zu beherbergen, deswegen wurde die Hinterreihe zur Kurgartenstraße. Der alte Name war doch immer noch ein deutlicher Hinweis auf die einfachere soziale Struktur der Bewohner, und die hatte sich auch geändert.
Viele der alten Häuser wurden umgebaut oder mußten einem Neubau weichen. Die heutigen Denkmalschützer wären vor Entsetzen gestorben, aber Travemünde mußte sich der neuen Zeit anpassen, um weiter zu bestehen. Die Zeit, da die Stadt als Festung und Bollwerk gegen böse Feinde von größter Bedeutung gewesen ist, war spätestens seit dem napoleonischen Krieg endgültig vorbei. Man könnte es kurz so formulieren: Aus einer Festung wurde ein Ostseebad und Kurort. Die Grundstücke der Vorderreihe, die sich bis zur Hinterreihe erstreckten, wurden nun bebaut, und die Straße bekam ihren heutigen Charakter. Auf der gegenüberliegenden „alten“ Seite können wir aber an der Art der Bebauung noch heute erkennen, wie es früher einmal gewesen war. Die kleinen Vorgärten mit den Resten vom Kopfsteinpflaster lassen erahnen, wie gemütlich man in der Hinterreihe lebte.
Ein typisches Beispiel für die Bebauung der Kurgartenstraße sind die beiden Häuser 61 und 63. Sie bieten heute als „Hotel Haus Soldwisch“ dem Gast gepflegte und gemütliche Unterkunft. Im Haus befindet sich noch die Gaststätte Leopold, die am 15. Januar unter der gastronomischen Leitung von Volkmar Finner, vielen Bürgern noch bekannt durch seine Tätigkeit als Koch in der Sonne, wieder für den hungrigen und durstigen Gast geöffnet wird. Das Haus Soldwisch wird wohl deswegen als Hotel Garni geführt. Etwa um die Jahrhundertwende wurde das große Haus als Hotel Stadt Kiel als Übernachtungsbetrieb mit Gaststätte und Ballsaal gebaut. Nach dem ersten Weltkrieg besaß ein Herr Rohbach den Betrieb. Anfang der zwanziger Jahre kaufte ein Herr Kümmerle die gastliche Stätte und hatte die glorreiche Idee, den Ballsaal zweimal in der Woche als Kino zu nutzen, also hiermit das erste Lichtspielhaus in Travemünde zu gründen. Unser Bürgerpreisträger und allen Travemündern bekannte und geschätzte Otto Timmermann erinnert sich noch genau an diese Zeit, hat er doch als Junge die Handzettel verteilt, damit möglichst viele Travemünder sich den Film ansahen. Dafür durfte er an der Tür stehen und die Filme umsonst betrachten. Drei größere Schüler liefen als Ausrufer durch die Straßen: „Hüt Awend, Klock acht Kino im Stadt Kiel!“, riefen sie. Lange Zeit waren es noch Stummfilme, die vorgeführt wurden mit musikalischer Untermalung durch einen Klavierspieler.
Die galoppierende Inflation von 1923 hatte auch in Travemünde negative Auswirkungen, das Geschäft lief schlecht, wer will schon eine Billion Reichsmark für einen Kinobesuch bezahlen. Nach Einführung der Rentenmark 1924 normalisierte sich die Situation, der Stummfilm wurde bald vom Tonfilm abgelöst, Pat und Patachon, Greta Garbo und Emil Jannings unterhielten die Travemünder. Nun wurden auch wieder Feste gefeiert. Besonders beliebt waren die Maskenbälle zur Karnevalszeit. Die Fischer, die Feuerwehr, der Beamtenbund usw. feierten ihre Stiftungsfeste mit Musik und Tanz. Weihnachtsfeiern und andere Festlichkeiten gehörten zum Programm, wie auch Kinderfeste und Theateraufführungen. Fast an jedem Sonntag vergnügten sich von 17 bis 19 Uhr die Kinder im Stadt Kiel, und ab 19 Uhr schwoften die Erwachsenen.
Man lese und staune, in Travemünde gab es damals fünf Säle, in denen zum Teil regelmäßig Tanzveranstaltungen und Bälle stattfanden. Das älteste Haus am Platze war das Gesellschaftshaus Torstraße 1, in dem die Liedertafel und der Gemeinnützige Verein ihre Festlichkeiten feierten, das aber auch gerne für private Zwecke wie Hochzeiten, Taufen und Trauerfeiern genutzt wurde. Ganz spezielle Tanzlokale waren das Colosseum und die Rose, die man nur mit Schlips betreten durfte. Aber auch im Saal des Deutschen Kaiser ging oft die Post ab.
Als 1929 durch den Zusammenbruch der Finanzmärkte an der amerikanischen Börse die Weltwirtschaftskrise begann, stieg in Deutschland die Arbeitslosigkeit rasant. Auch die Travemünder waren davon betroffen. Die soziale Struktur der Bevölkerung, Fischer, Handwerker, kleinbäuerliche Betriebe, Kaufleute und natürlich die Kurbetriebe verhinderten einen Teil der Arbeitslosigkeit, die besonders in den Großstätten und Industriegebieten des Landes sehr groß war. Trotzdem lief das Geschäft im Stadt Kiel auch nicht mehr so gut. Die Parteien gebrauchten diese Situation während der ständigen Wahlkämpfe für ihre Parolen nach Arbeit und Brot. Besonders die NSDAP nutzte die schlechte wirtschaftliche Lage für ihre Propaganda. Die Travemünder Volksgenossen tagten mit Vorliebe im Stadt Kiel, die Kollegen von der SPD hatten im Colosseum in der Torstraße ihr Stammquartier. Der Überlieferung nach soll es auch in Travemünde Krawalle und Saalschlachten gegeben haben, aber etwas moderater als in den Großstätten. Hinterher vertrug man sich der Regel wieder.
Nach der sogenannten „Machtübernahme“ im Januar 1933 besserte sich die Lage langsam, aber Kümmerle hatte keine Lust mehr, auch wegen seines Alters und verpachtete den Betrieb an August Both. Durch den Ausbau der Erprobungsstelle der Luftwaffe und den damit verbundenen Zuzug vieler Menschen verbesserte sich die wirtschaftliche Lage. Die Filmvorführungen hatte Both aufgegeben. Er nutzte den Saal vornehmlich für Veranstaltungen und Festlichkeiten. Als er starb, führten seine Frau Lena und ihre Kinder August, Käthe und Trudel den gastlichen Betrieb noch bis 1948 weiter. Aber diesmal war die Lage wirklich trostlos. Frau Both übergab das Haus an den umtriebigen Geschäftsmann Hans Kuhnt als Pächter. Kuhnt hatte mit seiner Frau im Deutschen Kaiser Filme vorgeführt und sein Kinogeschäft im Laufe der Zeit erheblich ausgeweitet. Er besaß Lichtspielhäuser in Kücknitz und Schlutup, hatte das Colosseum zum Kino umfunktioniert und schließlich die Kurlichtspiele in der Vogteistraße gebaut. Ihm gehörte auch der Bahnhofspavillon in der Vogteistraße, besser bekannt als Pappschachtel oder Hein Mück, denn Kuhnt hatte, inzwischen zu Geld gekommen, das Stadt Kiel gekauft, zu dem das Grundstück gehört.
1960 erwarben der Malermeister Heinz Soldwisch und seine Frau Edith-Marion das gesamte Anwesen. Der Saal wurde nicht mehr benötigt und zur Lagerhalle umfunktioniert. 1974 begann der große Umbau. Soldwisch hatte das Nachbargrundstück Nr. 59 gekauft, so daß er verschiedene Brandschutzbestimmungen erfüllen konnte. Der Saal wurde zum modernen Hoteltrakt mit 16 Zimmern ausgebaut, im Haus Nr. 63 entstanden zwei Ferienwohnungen. Das Restaurant wurde an Heinz Kühl verpachtet, der es fast ein Vierteljahrhundert zur Zufriedenheit vieler Gäste führte und es dann seinem Sohn Stefan übergab. Seit dem 15. Januar 2005 bewirtschaftet, wie schon anfangs erwähnt, Volkmar Finner die Gaststätte.
Heute gehört das Hotel dem jungen Christian Soldwisch, der zusammen mit seiner Frau Kerstin das Unternehmen leitet. Das Ehepaar kann viele Stammgäste begrüßen, die die erstklassig ausgestatteten und gemütlichen Zimmer genießen. Weg vom Straßenlärm blickt man über die hinteren Gärten der Kurgartenstraße. Durch den Erwerb des Hauses Nr. 55 konnte Soldwisch die rückwärtigen Gärten zu einer richtigen kleinen Parkanlage umgestalten, in der sich die Gäste gerne aufhalten. Einen ganz großen Vorteil kann das Hotel Haus Soldwisch wegen seines großen Parkplatzes bieten, der von der Vogteistraße kommend vom Hein Mück aus zu erreichen ist. Wir wünschen dem Ehepaar Soldwisch weiterhin viel Erfolg bei der Leitung ihres gastlichen Hauses und natürlich auch Volkmar Finner zur Neueröffnung des Restaurants Leopold.
Helmuth Wieck
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