Travemünder Häuser Nr. 68
Kaiserallee 29 und 29 a
Das Haus Holscher
In der Zeitschrift „Unser Travemünde“ des Gemeinnützigen Vereins wurde in der Ausgabe Juli-September 1998 im Rahmen „Portrait Travemünder Häuser“ über die Geschichte des Hauses Nr. 38, Kaiserallee 29 a berichtet. Bis 1951 gab es jedoch nur ein Gesamtanwesen Kaiserallee 29, erst danach folgte eine Teilung in Kaiserallee 29 und 29 a.
Der Chronist berichtet bis 1927 vom Gesamtanwesen. Mit diesem Bericht versuche ich fehlendes aus dem Zeitraum bis 1951 zu ergänzen. Die Jahre, die ich dort erleben durfte, sind für mich Erinnerungen an eine glückliche Kinderzeit.
Kurz vorweg: mein Großvater Karl Hüttmann, Direktor der Deutsch-Überseeischen Bank in Chile, hatte bereits 1917 mit seiner Frau und seinen drei Kindern im mondänen Travemünde drei Monate Sommerurlaub gemacht. Er wohnte in dieser Zeit als Feriengast im Haus Iris, der heutigen Strandperle, direkt an der Strandpromenade. Laut Adressbuch hatte er sich später, 1925 bereits im Haus Kaiserallee 29 eingemietet. Im Jahr 1926, als seine Tochter Käthe (meine Mutter) Kurt-Heimart Holscher heiratete, wurde dieses Anwesen Kaiserallee 29 ihr gemeinsames zu Hause.
Im Jahr 1927 kaufte mein Großvater das gesamte Anwesen von den Possehl-Erben. Zu diesem Zeitpunkt zog Gärtner Giebel aus. Zwei Jahre später überschrieb mein Großvater den gesamten Besitz meiner Mutter. Als mein Großvater im Juli 1929 mal wieder zu Besuch in Travemünde war, schrieb er an seine Schwester in Auszügen folgende Eindrücke:
… am 8. des Monats bin ich also richtig in Travemünde bei Holschers eingetroffen und logiere bei ihnen in der Logierstube … Kurt-Heimart zeigte mir die Einrichtung seines Hauses, auf das er mit Recht stolz sein kann. À la Bonheur. Das ist ein Schmuckkästchen. Seine Einrichtungen fanden meinen vollen Beifall.
Das Haus Holscher präsentiert sich in seiner neuen Gewandung tiptop. Von vorne hat es jetzt zwei Veranden. Auf jeder Seite eine, unter jedem Fenster oben. Dann hat es eine neue große Diele, sehr nett, von der es von der Seitenveranda hineingeht und auch vom Flur, mit fünfstufiger Treppe.
Die Diele ist zum großen Teil als Bibliothek eingerichtet … Im Übrigen hat eine alte Standuhr ihren Platz gefunden und eine alte Kaiser Wilhelm I. Büste mit zwei Leuchtern. Der Fußbodenbelag ist ein neuer Teppich, auf dem ein Tisch steht.
An die große Diele anschließend ist eine kleinere Diele mit dem alten Piano von Tante Toni, was sie von der alten Dame geerbt haben. Dem gegenüber hat das lebensgroße Portrait von Gerti seinen Platz gefunden unter dem ein Sopha und zwei Lehnsessel und ein Tisch mit Teppich sich befinden. Über dem Piano hängt das alte Hindenburgbild, das ich schon in Chile hatte.
Neben der kleineren Diele liegen zwei kleinere Schlafstuben mit separatem Eingang von den Vorderveranden. Sie enthalten beide je eiserne Bettstelle und zwei Kleiderspinde. Ein Bettvorleger und ein Toilettenspindchen vervollständigen das Amueblement. In jedem Schlafzimmer steht noch eine Waschkommode mit warmen und kalten Wasser und eine Deckenbeleuchtung für elektrisches Licht.
Zur Seite steht ein Schlafzimmer mit 2 Betten …, eine Waschtoilette mit fließendem warmen und kalten Wasser. Einem Kleiderschrank mit Spiegel. Je zwei Toiletteschränkchen und zwei Bettvorleger.
Nach hinten hinaus liegt noch ein Schlafzimmer, das von mir bewohnt wird mit einem Spiegelspind. Einem Tisch und einem Toilettenspind, einer eisernen Bettstelle und einem Bettvorleger. Und einer Waschtoilette mit fließendem warmen und kalten Wasser. Ein WC und separat davon ein Bad mit Dusche etc.
Mein bisheriges Zimmer hat Kurt-Heimart inne, …das bisherige Arbeitszimmer ist so geblieben, die Öfen sind alle weg und von der neuen Heizanlage ersetzt, die tadellos funktioniert. Im Keller ist die Heizung angelegt, die regelmäßig des Abends bedient werden muss, und sehr sparsam arbeitet.
Die bisher benützte kleine schmale Bibliothek ist zum größten Teil von einem Schreibtisch ausgefüllt und wird als Reserve zum eigentlichen Arbeitszimmer des Hausherrn verwertet. Das Haus Holscher repräsentiert sich sehr adrett … H.
Das Haus an der Kaiserallee sah ursprünglich etwas anders aus. Es hatte damals über dem Balkon ein Giebeldach anstelle des heutigen Pultdaches.
Wie heute, stand ganz hinten im Garten, zum Godewindpark hin, unser sog. Kavaliershaus (frühere Remise), heute Kaiserallee 29 a.
Kaiserallee 29 war ein Begriff. Hinter der wunderschönen hohen Buchenhecke, stets von meinem Vater sehr akkurat geschnitten, verbarg sich der gepflegte Garten mit vielen Obstbäumen, Beerensträuchern, Rhabarber, Erdbeeren und vielen mit Buchsbaum eingefassten Blumenbeeten. Und im Treibhaus wuchsen sogar noch die alten Weintrauben.
Es gab lauschige Ecken und die nicht wegzudenkende Ulme vor dem Kavaliershaus, die in meinen Kinderjahren eine wichtige Rolle spielte. Ein Tischler hatte im Baum zwischen den Ästen eine kleine Bank und einen Sitz fest verankert. Wir Kinder kletterten weiter bis in die Krone, wo wir unser „Storchennest“ hatten. Von dort hatten wir eine herrliche Aussicht auf den ganzen Garten bis zu den vier Lindenreihen der Kaiserallee. Über eine Strickleiter war es für uns Kinder kein Problem, in den Baum hinauf zu klettern. Von außen sah der Baum mit seinem grünen Blätterdach wie ein großer Regenschirm aus. Dieser Baum existiert heute nicht mehr.
Das Kavaliershaus war Abstellraum für Gartengeräte und Turnhalle für uns Kinder. Hier gab es eine Schaukel, Kletterseil und Sprossenwand. Von hier aus konnte man direkt in das Treibhaus gehen.
Es gab dort auch einen großen offenen Kamin, den ich nie in Aktion sah. Man sagt, dass hier gefeiert wurde. Im Obergeschoss befand sich unsere enge und bescheidene Sommerwohnung, dann zogen wir dorthin, um für die Sommergäste im großen Haus Platz zu machen.
„Die müssen einen guten Gärtner haben!“, müssen sich unsere Gäste gedacht haben. Wie Recht hatten sie. In früheren Zeiten war es Gärtner Giebel, der diesen Garten pflegte. Er hatte vermutlich meinen Vater mit der Begeisterung für den Garten angesteckt. So kam es auch, dass mein Vater sich u. a. seiner eigenen Dahlien- und Iriszucht sehr intensiv widmete. Nebenbei betrieb er auch einen Tee- und Schokoladenversand.
Man kann sich sicherlich gut vorstellen, dass ich mit meinen drei Schwestern und zwei Brüdern hier eine sehr glückliche Kindheit erlebte. Für uns Kinder war es hier, 100m vom Ostseestrand, wie in einer Märchenwelt. Was mir in starker Erinnerung verblieben ist und mich auch geprägt hat, ist ein Spruch, den mein Vater in Eichenbohlen eingeschnitzt am Balkon, gut von der Straße aus sichtbar, angebracht hat. Er lautete:
In den schlimmen Zeiten um 1943 hatten wir auf dem Rasen um die alte Sonnenuhr zwei Schafe. Meine Mutter hatte einen großen Webstuhl. Die Schafe wurden geschoren und die Wolle von ihr gesponnen und weiter verarbeitet. So erhielten mein Bruder und ich gestrickte Hosen und Jacken. Gegen Ende des Krieges war das ganze Haus mit Flüchtlingen belegt. Wie viele andere tat meine Mutter ihr Möglichstes, um diesen armen Menschen zu helfen.
Als die Versorgung immer schwieriger wurde, hatte meine Mutter das große Glück, eine Filiale der Bäckerei Otto Schlüter in unserem Haus einrichten zu können. Jeden Morgen kam ein Pferdefuhrwerk vom Bäcker und brachte die frischen Semmeln. Noch heute habe ich den Duft in der Nase.
Das Haus Kaiserallee 29 wurde durch die britische Besatzungsmacht nie beschlagnahmt, da meine Mutter einen chilenischen Pass hatte.
Ich kann mich gut an den fürchterlichen Winter 1946/47, Eis im Treppenhaus des Hauses, entsinnen. Es war eine fürchterliche Zeit. Es gab nichts zu essen, eingefrorene Kartoffeln, und auch kein Brennholz für den Kachelofen. Mit meinen Brüdern bin ich mit unserem Blockwagen auf den Priwall gefahren, um dort aus einer zerstörten Baracke Feuerholz zu holen. Zurück mit der Fähre, nahm uns ein Polizist das ganze Holz ab. Ich denke, damit wurde anschließend das Dienstzimmer in der alten Vogtei geheizt!
Der Krieg war vorbei, mein Vater aber noch nicht wieder zu Hause. Dabei hätte ihn die Familie, der Garten und das Haus so sehr gebraucht.
Als mein Vater dann 1947 endlich aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, war die Ehe meiner Eltern bedauerlicherweise zerbrochen. Meine Mutter hatte in der schweren Not beschlossen, mit uns Kindern in ihr Geburtsland Chile, in dem sie selbst eine glückliche und sorgenfreie Jugend verbracht hatte, auszureisen. Und so trennte sich die Familie und mein Elternhaus wurde zum Verkauf angeboten.
Das Kavaliershaus wurde im Jahr 1951 von meiner Mutter an den Kunstmaler Herrn Fey verkauft. Es folgte auch der Verkauf des Haupthauses, aus dem später das Hotel Camino wurde.
Anfang 1964 kehrte ich aus Chile, als Jüngster und Einziger der sechs Geschwister, nach Deutschland zurück. In den folgenden Jahren besuchte ich einige Male Travemünde und traf öfter Leute, die sich noch gut an mein Elternhaus und meine Familie in der Kaiserallee 29 erinnern konnten. Nun wohne ich mit meiner Frau seit 2003 wieder in meiner schönen Heimat Travemünde.
Wir freuen uns, dass das alte Anwesen weiterhin so gut gepflegt wird und die Häuser Kaiserallee 29 und 29 a immer wieder schön „herausgeputzt“ werden.
V. Holscher
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